Mittwoch, 9. Januar 2013

Biedermann und die Brandschützer

Oder: Warum ein Heimaufenthalt gefährlicher ist, als ein Kinobesuch.

Vor gut einem Monat kamen bei einem Brand in einer Behinderteneinrichtung im deutschen Titisee-Neustadt 14 Menschen ums Leben. Was von den Medien zu einer aussergewöhnlichen Tragödie hochstilisiert wurde, ist in Wahrheit keine Seltenheit: Es brennt andauernd in irgend einem Heim oder einer Werkstatt, auch in der Schweiz. Und zumindest im Ausland kommt es dabei regelmässig zu Verletzten und Toten.

Evakuierungsrutschen könnten helfen

Sucht man nach den Brandursachen, stösst man nicht selten auf mangelhafte Wartung und andere Formen von fahrlässigem Verhalten. Und auch die Todesopfer sind schnell erklärt: Im Brandfall ist die Benützung von Liften verboten. Die einzige realistische Möglichkeit, ein höher gelegenes Stockwerk voller behinderter oder betagter Personen im Brandfall rechtzeitig zu räumen, bieten sogenannte "Evakuierungsrutschen". Über eine solche verfügt beispielsweise das Hotel Twannberg im Berner Jura.


Evakuierungsrutsche des Hotels Twannberg BE

Warum ich Ihnen gerade dieses Beispiel zeige? Ich habe während einer Klassenfahrt vor etwa zehn Jahren einmal dort übernachtet. Und das war das erste und bislang einzige Mal, dass ich so eine Rutsche mit eigenen Augen gesehen habe. Dabei können diese Rutschen auch spiralförmig am Gebäude angebracht werden, sodass sie kaum Platz benötigen. Warum sie für Betagten- und Behinderteneinrichtungen nicht längst obligatorisch sind, ist meiner Meinung nach total unverständlich.

Kino diskriminiert Rollstuhlfahrer - mit dem Segen des Bundesgerichts

Vor dem Hintergrund solcher brandschutztechnischer Versäumnisse wirkt die neuste Fehlentscheidung des Bundesgerichts besonders absurd: Es hat einem Kinobetreiber das Recht eingeräumt, Rollstuhlfahrern aus Brandschutzgründen die Teilnahme an Vorstellungen zu verweigern. Dies nicht etwa aufgrund von feuerpolizeilichen Vorschriften. Das Bundesgericht begründete das Urteil damit, "dass die Angst des Kinobetreibers verständlich sei, im Falle des Todes oder von Verletzungen des Rollstuhlfahrers in Folge eines Brandes mit Vorwürfen konfrontiert zu werden.", wie Égalité Handicap in der Dezemberausgabe ihres Newsletters schreibt.

Was ist brandschutztechnisch gesehen wohl gefährlicher? Ein Heim mit vielleicht 20 gehbehinderten Heimbewohnern und nur fünf gehenden Pflegern, oder ein Kinosaal mit einem einzigen gehbehinderten Besucher und ein paar dutzend gehenden Besuchern und Kinoangestellten? Wo ist das Verhältnis zwischen Personen, die hinaus getragen werden müssen und Personen, die jemanden hinaustragen können wohl günstiger? Die Antwort ist offensichtlich. Aber darum scheint es im Urteil ja auch gar nicht zu gehen. Das Bundesgericht trägt in der Urteilsbegründung ja der Angst des Kinobetreibers vor einem Imageschaden Rechnung, nicht der Sicherheit der Kinobesucher. Soll heissen: Es ist völlig in Ordnung, behinderte Personen zu gefährden, solange man mit dem daraus resultierenden Imageschaden leben kann.

Was auf den ersten Blick sehr zynisch wirkt, hat bei näherer Betrachtung durchaus seinen Sinn: Hätte das Bundesgericht seine Entscheidung nämlich mit objektiven Sicherheitsargumenten begründet, hätte es einen für Behinderteneinrichtungen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen. Denn dann hätten eben auch behinderte Personen das Recht, sich gegen einen Aufenthalt in einem sicherheitstechnisch viel gefährlicheren Gebäude (wie beispielsweise einem Heim) zur Wehr zu setzen. Viele Heime müssten umgebaut oder geschlossen werden. Und auch die Forderungen nach einem vernünftigen Assistenzmodell und einem Ausbau der Spitexleistungen würden, mangels sicherer Heimplätze, Rückenwind erhalten.

Fazit: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich auch in der Schweiz eine Katastrophe a la Titisee-Neustadt ereignet. Viele Orte kommen dafür in Frage: Womöglich wird es ein Heim, eine geschützte Werkstatt, eine Rehaklinik oder eine Sonderschule treffen. Aber garantiert kein Kino.

Siehe auch

Bundesgericht verkennt Realität der Menschen mit Behinderung!


Brandkatastrophen in ausländischen Heimen (Auszug)

Brand in Behindertenheim: Vierzehn Menschen sterben (Titisee-Neustadt, Deutschland)

Katastrophen: Hintergrund: Tödliche Brände in Einrichtungen für Behinderte (Deutschland, Auflistung verschiedener Brände der letzten Jahre)

Grosseinsatz der Feuerwehr (Egg, Österreich)

Feuer in Behindertenheim in Süditalien

Zehn Tote bei Brand in Behindertenheim (Anderson, USA)

Brand in Behindertenheim: Sieben Todesopfer bei Moskau


Bislang glimpflich ausgegangene Brände in Schweizer Heimen (Auszug)

Brand im Behindertenheim (ZH)

Brand endete glimpflich (BL)

Brand im Behinderten-Heim (SO)

Teufen: Brandfall in Heim - Feuerwehrmann verletzt (AR)

Behindertenheim wegen Brand geräumt (BE)

Brand in Jugendheim in Trogen ohne Verletzte (AR)

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