Mittwoch, 27. Februar 2013

#SBB: Unsere Kunden sind uns keine 0.14 Rappen Wert

Das Bundesgericht hat entschieden: Die SBB muss ihr Angebot an Rollstuhlplätzen in den 20 neuen Intercity-Doppelstockzügen nicht umgestalten. Integration Handicap und die Schweizerische Fachstelle für behindertengerechtes Bauen unterlagen der SBB im Beschwerdeverfahren gegen ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes. In der Pressemitteilung der SBB spricht man von einem wichtigen Signal. Und tatsächlich sollte dieses Urteil jedem SBB-Kunden schwer zu denken geben.

"Behindertenabteil" statt Inklusion

Der SBB wurde mit der Annahme der Beschwerde durch das Bundesgericht das Recht eingeräumt, sich auf ein separates Behindertenabteil mit rollstuhlgängiger Toilette im Untergeschoss des Speisewagens, sowie jeweils einem bedingt nutzbaren Sitzplatz für Rollstuhlfahrer in den ansonsten nicht barrierefreien übrigen Wagons zu beschränken.

Da das Behindertenabteil gleichzeitig als Ersatz für den fehlenden Zugang zum Speisewagen gedacht ist und daher mit Tischen ausgestattet sein wird, wird es gerade mal drei Rollstuhlfahrern Platz bieten. Zum "Ghetto" wird der Speisewagenersatz aufgrund der Tatsache, dass dort nur behinderte Personen bedient werden sollen. Nichtbehinderte Personen dürften daher kaum motiviert sein, einen der elf regulären Sitzplätze des Abteils zu benutzen. Die Rollstuhlplätze in den übrigen Wagons werden sich wahrscheinlich als Alibiübung entpuppen, da sie einerseits für viele Rollstuhltypen zu eng gestaltet sind und man andererseits von dort aus keinen Zugang zu einer barrierefreien Toilette haben wird. Somit werden in einem Zug mit 600 Sitzplätzen faktisch nur drei Personen reisen können, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind - und das auch noch in so einer Art Sonderzone, isoliert von den übrigen Reisenden.

Almosen statt Service-Qualität

Ein zusätzliches barrierefreies Abteil im an den Speisewagen angrenzenden Wagon einzurichten, wie dies das Bundesverwaltungsgericht im April 2012 angeordnet hatte, scheint vor diesem Hintergrund doch eine recht vernünftige Massnahme zu sein. Zumal die Mehrkosten für diese Planänderung gemäss SBB gerade mal bei einem halben Prozent liegen würden (10 Millionen Franken Mehrkosten bei Gesamtkosten von 1.9 Milliarden Franken).

Dass man sich bei der SBB so massiv dagegen gewehrt hat, zeigt eindrücklich, dass die Verantwortlichen den eigentlichen Sinn von Barrierefreiheit nicht wirklich verstanden haben: Sie ist kein Almosen für "arme Behinderte". Sie ist eine Versicherung, die jedem Kunden auch dann den vollumfänglichen Zugang zu einer Leistung oder einem Produkt garantiert, wenn er einmal in seiner Funktionsfähigkeit eingeschränkt ist. Ob dieser Zustand nun vorübergehend (z.B. wegen einem Beinbruch) oder dauerhaft ist, spielt letztendlich keine Rolle: Wenn der Kunde zum Zeitpunkt seiner Reise eingeschränkt ist und die SBB den Komfort des Angebotes unter diesen Umständen nicht garantieren kann, hat sie schlecht gearbeitet.

Wenn man bedenkt, dass die SBB 977'000 Passagiere pro Tag bedient und man von einer 20-jährigen Nutzungsdauer der neuen Züge ausgeht, hätte die Bahngesellschaft gerademal 0.14 Rappen(!) pro Tag und Fahrgast investieren müssen, um dies zu verhindern. Dass das der SBB zu teuer war, ist ein Affront gegen jeden Bahnkunden.

Daran ändert dann auch der Verweis auf das "SBB Callcenter Handicap" und die diversen Vergünstigungen am Ende der Pressemitteilung nichts, im Gegenteil: Die Einstiegshilfe, die man beim Callcenter anfordern kann, ermöglicht Rollstuhlfahrern zwar die Benützung eines für sie eigentlich unzugänglichen Zuges. Aber man wird durch die Inanspruchnahme dieser Einstiegshilfe vor allen anderen Reisenden als "Sonderfall" exponiert, der die Weiterfahrt des Zuges behindert:



- Eine solche öffentliche Demütigung kann man kaum als kundenfreundliche Lösung bezeichnen und erst recht nicht als Beitrag für mehr Autonomie. Es ist eine Verlegenheitslösung die aus dem Kauf von nicht benutzerfreundlichem Rollmaterial resultiert und sicher nichts, womit man sich öffentlich profilieren sollte.

Auch das Vergünstigungssystem bei den Ticketpreisen bezeugt das konfuse Almosendenken der SBB: Warum sollen beispielsweise blinde Personen Ortsbuse und Tramlinien einiger Städte gratis benutzen dürfen und für Regionalzüge voll bezahlen müssen, während dem IV-Rentner beim Kauf eines GA's 30% Rabatt erhalten? Wo steckt die Logik hinter derartigen Tarifkonstrukten? Und inwiefern zeugt das, wie in der Pressemitteilung behauptet, vom Engagement der SBB für die "Autonomie" behinderter Fahrgäste? Ich bin mir sicher, dass die meisten Betroffenen mit Freude den vollen Ticketpreis bezahlen würden, wenn sie von der SBB im Gegenzug wie vollwertige Kunden behandelt werden würden.

Sinnlose Beschwerde

Endgültig ad absurdum führen die Bundesbahnen ihre Beschwerde im zweituntersten Abschnitt, wo es heisst: "Die SBB hat das ursprünglich geplante Design vorsorglich modifiziert und mit der Umsetzung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts bereits begonnen. Dies, um keine weiteren Verzögerungen zu riskieren. Nach dem heutigen Entscheid wird nun geprüft, wie dieser im Projektverlauf umgesetzt werden kann. Die Abstimmung mit den Verbänden und das Verfahren haben zu erhöhtem Engineeringaufwand geführt, wodurch zusätzliche Kosten von ca. 10 Mio. Franken entstehen."

- Die vom Bundesverwaltungsgericht verordnete Planänderung wurde also bereits vorgenommen. Die durch die Plankorrektur bedingten 10 Millionen Franken Mehrkosten (0.5% der Gesamtkosten) sind bereits entstanden. Dennoch überprüft man jetzt, ob man die Anpassungen wieder rückgängig machen kann, wodurch die 10 Millionen Franken sinnlos in den Sand gesetzt werden würden und womöglich noch einmal zusätzliche Mehrkosten entstehen könnten. Was bezweckt die SBB damit? Wozu beharrt sie auf ihrem jetzt offensichtlich sinnlosen Standpunkt? Ist dies das Verhalten eines Unternehmens, welches sein Angebot in permanentem Dialog mit den Kundinnen und Kunden den Bedürfnissen anpasst, wie es auf der Homepage der SBB heisst?


Siehe auch:

Neue SBB-Doppelstockzüge: Kein «Ghetto-Abteil», bitte!

Bundesverwaltungsgericht gibt Behindertenorganisationen Recht

Neue Doppelstockzüge der SBB für den Fernverkehr: Bundesgericht heisst Beschwerde der SBB gut.

"Es braucht keinen barrierefreien öV"

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